Dresden- Wer dabei war, wird es wohl nie vergessen. Als die schon schwer angeschlagene DDR am 7. Oktober 1989 ihren letzten Geburtstag feierte, hatte die Semperoper in Dresden ein besonderes Geschenk vorbereitet: Ludwig van Beethovens einzige Oper «Fidelio». Regisseurin Christine Mielitz ließ die Protagonisten in einem Bühnenbild mit Mauern, Stacheldraht, Hochsicherheitstrakt und Wachturm agieren.
Der damalige Dresdner SED-Bezirkschef Hans Modrow, der bei vielen in der Bevölkerung als Hoffnungsträger für bessere Zeiten galt, soll während der Proben zu Mielitz gesagt haben: «Aha, ein Gefängnis. Ach ja, na dann machen Sie mal weiter». Als das Stück schließlich auf die Bühne kam, befand sich die DDR in der Auflösungsphase. Am 7. Oktober und in den Tagen davor waren auch in Dresden Zehntausende aus Protest auf der Straße.
«Mitwirkende und Zuschauer wissen, es ist eine historische Stunde», schrieb die Dresdner Kulturjournalistin Kerstin Leiße später über die Aufführung. «Ein Moment, der die Grenzen zwischen Kunstäußerung und realem Leben auflöst, so erschütternd wie einmalig.» Kammersänger Jürgen Hartfiel, der als Minister Don Fernando im Finale Menschlichkeit und Gerechtigkeit verkünden soll, habe vor Erregung die Stimme versagt.
«Das Ensemble gerät in einen Strudel der Emotionen. In dem Bühnengeschehen – einem Spiegel gleich – brechen sich die Gedanken, wandern nach draußen, wo nicht stummer Protest, sondern immer stärker werdendes, aber friedliches Aufbegehren auf staatliche Gegengewalt trifft», schilderte Leiße ihr Empfinden. Als das Stück endete, sei das Publikum aufgestanden, habe sich umgedreht und in die Logen geschaut – dort, wo die Oberen saßen.
Viele Zitate aus dem «Fidelio» wirken wie auf die damalige Situation gemünzt. «O welche Lust, in freier Luft den Atem leicht zu heben», singt der Chor der Gefangenen und wenig später: «Die Hoffnung flüstert sanft mir zu: Wir werden frei, wir finden Ruh.» Auch Sätze wie «Sprecht leise! Haltet euch zurück! Wir sind belauscht mit Ohr und Blick» hallen nach, zu deutlich waren die Parallelen zur Lebenswirklichkeit im Land.
35 Jahre nach dem Mauerfall hat die Semperoper nach längerer «Fidelio»-Abstinenz wieder eine Serie von Aufführungen angesetzt. Die Erste gab es am Tag der Deutschen Einheit. Das Publikum war ergriffen, stand Beifall spendend minutenlang im Saal. Nur der Blick zur Loge war nicht mehr nötig. «Ich bin sehr glücklich, diese Inszenierung – 35 Jahre danach – noch einmal erleben zu dürfen», sagte der Dresdner Stefan Thiede ein: «Ein Abend, der bleibt.»
Thiedes Mutter Helga hatte seinerzeit die weibliche Hauptpartie Leonore gesungen. Stefan Thiede hält die Mielitz-Inszenierung bis heute für «einen mutigen und großartigen Schritt, der auch im Rückblick das Publikum immer noch emotional vollständig packt». «Am 7. Oktober 1989 tobte das Publikum im Saal. Meine Mutter berichtete, dass die Künstler selbst derart ergriffen waren, dass eine Fortsetzung fast unmöglich schien.»
Dass Stefan Thiede damals als 17-Jähriger selbst bei Protesten auf der Straße unterwegs war, hat er seiner Mutter nicht erzählt. Sie sollte sich nicht um ihn sorgen. Die Entwicklung lief damals wie im Zeitraffer ab. Wenige Tage nach der Premiere fuhr die Semperoper zum Gastspiel ins damalige Leningrad und nach Minsk – auch mit «Fidelio». Als das Ensemble zurückkehrte, war Erich Honecker schon nicht mehr Staats- und Parteichef.
Auch für die aktuelle «Fidelio»-Serie stellt die Semperoper einen Zeitbezug her. Das Stück sei «beunruhigend geblieben bis auf den heutigen Tag», schreibt die Sächsische Staatsoper in ihrem Programmheft. Die umfassende Verwirklichung humanistischer Ideale in Europa und in der Welt bleibe als Aufgabe. Weitere Aufführungen von «Fidelio»: 9.10, 12.10., 17.10 und 26.10. (dpa)