Chemnitz - Die mit einem Peace-Zeichen verzierte Tafel in Erinnerung an Daniel H. ist leicht zu übersehen. Viel mehr fallen an diesem Ort große DDR-Reliefs in den Blick mit Lobgedichten auf den Kommunismus. Hier im Zentrum von Chemnitz starb der 35-Jährige Ende August 2018, erstochen von einem Syrer und einem Iraker. Auf die Gewalttat folgte eine Welle von Demonstrationen, bei denen sich zuvor unauffällige Bürger Seite an Seite mit Neonazis und Fußball-Hooligans zeigten. Rechtsextreme schlossen sich zur Terrorgruppe «Revolution Chemnitz» zusammen, es gab Angriffe auf Migranten und auf offener Straße brüsteten sich manche ungeniert mit dem Hitlergruß.
«Was wir hier 2018 gesehen haben, war ein Schulterschluss der rechten Szene», konstatiert Ulf Bohmann, Soziologe an der TU Chemnitz. Das habe von militanten Neonazis über Fußball-Hooligans bis hin zu Parteien wie Pro Chemnitz und der AfD gereicht. Zugleich sei es ihnen gelungen, durch starke Politisierung Teile der Bürgerschaft, die nicht als rechtsextrem zu verorten seien, zu mobilisieren.
Bohmann hat mit Kollegen in einer Studie der Stadt und ihren Einwohnern nach den Ereignissen 2018 den Puls gefühlt. Sein Fazit: Zu ähnlichen Geschehnissen hätte es auch andernorts kommen können. Doch in Chemnitz habe es Bedingungen gegeben, die das Ganze begünstigt haben. Etwa ein dichtes Netz rechter Strukturen. Und weil Polizei und Stadtgesellschaft zu wenig entgegenzusetzen hatten, hätten sich Rechtsextreme als Stimme der schweigenden Mehrheit in Szene setzen können.
Zwar gab es engagierten Gegenprotest wie ein Konzert unter dem Motto «#wirsindmehr», bei dem Bands wie Kraftklub, die Toten Hosen und der Rapper Marteria 65 000 Menschen auf die Straßen brachten. Der Ruf als braune Hochburg klebt Chemnitz dennoch seither wie Kaugummi am Schuh. Selbst ausländische Fachkräfte, die schon länger hier leben, berichten von Angst als häufigen Begleiter auf der Straße. «Gerade nicht weiße Menschen sind seither verunsichert», weiß André Löscher, der für den Verein RAA Sachsen seit vielen Jahren in der Stadt Betroffene rechter Gewalt berät. «Es ist nach wie vor in den Köpfen.»
Sein Verein führt eine eigene Statistik zu rechtsmotivierter Gewalt. Dabei zeige sich, dass Chemnitz im sächsischen Vergleich nicht an der Spitze stehe und sich bei Gewalttaten im Mittelfeld bewege, betont er. Voriges Jahr etwa wurden in Chemnitz 14 Angriffe registriert, in Leipzig dagegen 50, in Dresden sogar 64. Doch Löscher beobachtet einen Gewöhnungseffekt und vieles käme gar nicht zur Anzeige. So seien Menschen, die sich politisch gegen Rechts engagieren oder erkennbar ausländische Wurzeln haben, Beschimpfungen ausgesetzt, würden bedrängt oder gar angegriffen.
Da reicht es mitunter, auf der Straße eine andere Sprache zu sprechen. Das musste ein ausländischer Kulturmanager im Frühjahr erfahren. Im März wurden er und seine Begleiter angegriffen, weil sie Englisch sprachen. Dabei wurde der 33-Jährige laut Polizei schwer verletzt. Überregional für Aufmerksamkeit sorgte auch ein Angriff auf den damaligen Leiter der Kunstsammlungen, Frédéric Bußmann. Er hatte voriges Jahr Jugendliche zur Rede gestellt, die Nazi-Parolen riefen. Daraufhin wurde er von ihnen umringt und verprügelt.
Zahlen des Verfassungsschutzes zeigten zuletzt einen Rückgang rechtsextremistischer Straftaten in Chemnitz. 116 waren es demnach 2022 nach 154 im Vorjahr. Das Personenpotenzial der Rechtsextremisten liege in Sachsen insgesamt aber weiter auf einem Höchststand. Zudem konstatierten die Experten, dass rechtsextremistische Ideologie weiter in andere Bevölkerungsschichten einsickert und die Gruppen immer neue Themen mit Empörungspotenzial finden.
Auch Soziologe Bohmann beobachtet, dass die Rechten bestrebt sind, anschlussfähig für breitere Schichten zu werden. Dazu verweist er auf die vielen Proteste gegen Corona-Schutzmaßnahmen oder in jüngerer Zeit gegen die Russland-Politik und hohe Energiepreise. Solche Themen würden von Rechtsextremen aufgegriffen, ohne dass sie sich dabei allzu radikal geben. «Die konkreten Themen sind austauschbar - egal ob Corona, Frieden, Energiepreise oder Gendern», so Bohmann. «Es gelingt ihnen immer wieder ein ähnliches Klientel zu mobilisieren.»
Er und seine Kollegen sprechen vor diesem Hintergrund inzwischen von einer «Risikodemokratie». Die Gefahr für die Gesellschaft besteht demnach darin, dass sich die Rechten demokratischer Mittel und Ideale bedienen, um die Demokratie selbst auszuhöhlen und zu bekämpfen. Das habe sich bei dem Geschehen infolge der Ereignisse 2018 in Chemnitz deutlich gezeigt.
Doch für die nach Berlin, Leipzig und Dresden viertgrößte Stadt in Ostdeutschland hat sich nach dem tiefen Fall eine neue Tür aufgetan. Im Herbst 2020 gewann sie das Rennen um den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt 2025 und ließ Hannover, Hildesheim, Magdeburg und Nürnberg hinter sich. Im Bewerbungsbuch hatten die Chemnitzer klar den Finger in die Wunde von 2018 gelegt und dem Ganzen zwei Berichte der «New York Times» und des «Guardian» zu den damaligen Ausschreitungen und dem Gegenprotest vorangestellt.
Die Idee: Die Kulturhauptstadt soll nicht nur der Stadtentwicklung dienen, sondern Projekt der Gesellschaftsentwicklung sein. Ziel ist, die «stille Mitte» der Bevölkerung zu aktivieren - jene Menschen, die sich nicht an politischen Debatten beteiligen oder politisch engagieren und so indirekt einer gesellschaftlichen Radikalisierung Vorschub leisten. Ob das gelingt, soll sich schon in zwei Jahren zeigen, wenn - so die Hoffnung - viele internationale Gäste trotz des ramponierten Images hierher kommen. (dpa)