Dresden - Die Kommunal- und Europawahlen vor zwei Wochen haben gezeigt: Sachsen, Deutschland und viele unserer Nachbarländer rücken weiter nach rechts. Im Sachsen Fernsehen-Interview analysieren zwei Experten die sächsischen Ergebnisse und stellen eine Partei vor, die es aus dem Stand in zahlreiche Kommunalparlamente geschafft hat.
„Im Schatten der AfD hat sich die neonazistische Szene in Sachsen reaktiviert“, sagt Michael Nattke vom Kulturbüro Sachsen. Denn bei den Kommunalwahlen konnte nicht nur die AfD kräftig zulegen. Mit den „Freien Sachsen“ ist nach der NPD erstmals auch eine noch radikalere Partei in vielen Kommunalparlamenten vertreten.
Auch Michael Krell forscht an der TU Dresden zu dem neuen Zusammenschluss altbekannter Neonazis und Rechtsextremisten. Er erklärt, was die „Freien Sachsen“ so erfolgreich macht und was es mit dem „Säxit“ auf sich hat. Außerdem fragen wir, wie die neuen Parlamente mit den neuen radikalen Köpfen umgehen können.
Waren sie als Experten von den starken Zugewinnen der AfD bei den Europa- und Kommunalwahlen überrascht?
Nattke: Mich hat überrascht, mit welchem Abstand die AfD gewinnt und mich hat auch sehr überrascht, dass die AfD auch in den Großstädten so gut abschneiden konnte. Das hätte ich so nicht erwartet.
Krell: Die Normalisierung der AfD über die letzten Jahre hat dazu geführt, dass sie eben immer mehr als normaler „Player“ wahrgenommen wird. Sie ist nicht mehr „das Andere“, sondern vielmehr als eine weiter Option, die man wählen kann. Das gesamte Interview ist am Ende des Artikeln zu sehen.
Überrascht das starke Abschneiden insbesondere bei Jüngeren?
Krell: Dieser Mythos, dass die AfD eine Partei für alte Leute ist, hat eigentlich noch nie gestimmt. Also gerade in den Bevölkerungsgruppen über 60, 70 hat die AfD schon immer die geringsten Wahlanteile gehabt. Auch bei der Europawahl waren die über 70-Jährigen der einzige Altersbereich, wo die AfD einstellig war.
Noch vor Monaten demonstrierten Tausende für Demokratie und gegen Rechtsextremismus. Waren die großen Brandmauer-Proteste angesichts der rechten Wahlerfolge "umsonst"?
Nattke: Dem würde ich wirklich klar widersprechen. Die Demokratie-Demonstrationen haben es geschafft, dass Menschen sichtbar wurden, die die ganze Zeit unsichtbar waren. Diejenigen, die Angst davor haben, dass die AfD an Macht gewinnt, die auch Sorge um ihre eigenen Lebensentwürfe haben, diesen Teil der Bevölkerung musste man erst mal sichtbar machen.
Welche Rolle spielen TikTok, Instagram und Co. für den Erfolg der AfD?
Krell: Dort betrieben sie eine sehr professionelle Social Media-Arbeit und haben so sehr hohe Abonnentenzahlen. Auf diesen Kanäle wird ihre Zielgruppe dauerhaft bespielt. Und das hat natürlich durchaus einen Einfluss darauf, wie sie die Welt wahrnehmen.
Braucht es strengere Gesetze für Social Media Plattformen, um Demokratie-Feinde fernzuhalten?
Nattke: Natürlich gelten auch Online Gesetze für Volksverhetzung oder Diskriminierung. Aber ich finde, dass wir dazu keine neuen Gesetze oder Verschärfungen brauchen, sondern dass die konsequente Anwendung des jetzt geltenden Rechts ausreichen würde.
Verbote könnten zudem einfach auf anderen Plattformen umgangen werden. Stattdessen muss unsere Gesellschaft lernen, gut mit Online-Medien umzugehen.
Seit wenigen Jahren heizen auch die „Freien Sachsen“ den radikalen Straßenprotest weiter an und machen mit grenzüberschreitenden Aktionen auf sich Aufmerksam. Aber sind sie wirklich so relevant, dass man wie sie beide Bücher über sie schreiben muss (Analysen aktueller Protestphänomene der radikalen Rechten in Sachsen; Hg. von Michael Kroll und Tom Böhme & Widerstand über alles: Wie die Freien Sachsen die extreme Rechte mobilisieren; Johannes Kiess, Michael Nattke)?
Krell: Sie sind in jedem Fall so relevant, dass man darüber Bücher schreiben kann. Aus wissenschaftlicher Perspektive hat erstmal grundlegend jedes Phänomen, das irgendwie auftritt, die Berechtigung, es zu erforschen.
Und gerade bei so extrem rechten Bewegungen, ist es natürlich auch wichtig, Strategie-Veränderungen, Erfolge oder geografische Schwerpunkte zu dokumentieren. Das ist auch wichtig, damit die Gesellschaft eben nicht im „Blindflug“ unterwegs ist, sondern darauf auch reagieren kann.
Stellt sich die Frage, wer genau die „Freien Sachsen“ sind?
Krell: Das ist gar nicht so kurz zu beantworten. Wir haben ja auch 370 Seiten darüber geschrieben (lacht). Formal gesehen eine Partei, die sich 2021 in Sachsen gegründet hat und aus der Protestbewegung gegen die Corona-Maßnahmen stammt.
Und die „Freien Sachsen“ haben dann eben versucht, diese Proteste unter ihrem eigenen Label als Dachorganisation zu vereinen und so angefangen, eine politische Marke zu etablieren mit eigenem Logo: die Sachsen-Fahne mit dem königlich sächsischen Wappen drauf.
Das hört sich an wie ein junges, modernes Startup.
Krell: Ja, man kann sie auf jeden Fall als politische Marke analysieren. Sie haben einen großen Fokus auf diese Kommunikation gelegt. Also wir haben es da durchaus mit strategisch agierenden Akteuren zu tun, die diese Proteste einfach genutzt haben, um Aufmerksamkeit zu erlangen.
Nattke: Ich würde ganz kurz einsteigen wollen: Wir haben ja auch über die AfD gesprochen. Zu Recht, weil es ist die wichtigste Partei im extrem rechten Spektrum. Aber im Schatten der AfD hat sich diese neonazistische Szene speziell in Sachsen reaktiviert.
Und das, was vor vielen Jahren vielleicht in der NPD, Kameradschaften oder sonstige rechtsextremen Parteien unterwegs war, das ist wieder da. Und zwar in einer ungeheuren Dynamik. Und das ist eine Besonderheit für Sachsen, weswegen es sich auch lohnt, dann ein Buch darüber zu machen.
Warum eigentlich wieder Sachsen und nicht die „Freie Bayern“ oder „Freie Mecklenburger“? Warum gründet sich eine solche Partei ausgerechnet im Freistaat?
Nattke: Dafür gibt es zahlreiche Gründe. Ein zentraler Punkt dafür ist der Umgang mit Rechtsextremismus in Sachsen bis vor ungefähr acht, neun Jahren. Es gibt diesen berühmten Satz von Kurt Biedenkopf (Ministerpräsident Sachsen 1990 bis 2002) „Die Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus.“
Der Satz ist gar nicht so wichtig. Aber das, was dahinter liegt, ist wichtig: der Umgang mit Rechtsextremismus in Sachsen wurde entweder geleugnet, heruntergespielt hat oder es wurde behauptet hat, das sind Leute von außerhalb.
Man hat sich also dem Problem nicht gestellt und nicht damit auseinandergesetzt. Unter diesen Voraussetzungen konnte sich über 30 Jahre die extreme Rechte in Sachsen besonders gut entwickeln.
Eine Forderung der „Freien Sachsen“ ist der „Säxit“. Statt gefährlich, hört sich das eher nach einem guten Witz an. Was hat es damit auf sich?
Krell: Erst mal bedeutet der „Säxit“ eben eben in Anlehnung an den Brexit den Austritt Sachsens aus der Bundesrepublik Deutschland und damit auch aus der EU.
Ist das ernst gemeint?
Krell: Was sich auf jeden Fall sagen lässt, ist, dass die Freien Sachsen maßgeblich darauf hinarbeiten als Autonomiebewegung aus der Bundesrepublik im Endeffekt auszutreten. Sie lassen dabei offen, treten Sie ganz aus oder werden sie einfach stärker, unabhängig.
Sie wollen ein „freies Sachsen“, das frei wäre, von den "negativen Einflüssen" aus Berlin oder Brüssel. Aber natürlich bringt das Thema in erster Linie auch Aufmerksamkeit.
Nun sitzen in einigen Kommunalparlamenten „Freie Sachsen“, die sich selbst offen als „Nationalsozialisten“ bezeichnen. Hätte das nicht notfalls juristisch verhindert werden müssen?
Nattke: Also also ich denke schon, dass jeder Mensch gewählt werden kann, auch wenn er oder sie die Demokratie ablehnen. Das Besondere an einer Demokratie ist ja, dass sie sich immer selbst abschaffen kann. Sobald eine Demokratie, die nicht mehr dazu in der Lage ist, ist sie keine Demokratie mehr, weil dann ist das ein Staat der in Stein gemeißelt ist, wo nichts mehr veränderbar ist.
Das heißt aber für den Rest der Gesellschaft natürlich, dass man lernen muss, im guten Umgang mit Antidemokraten zu finden und ich glaube, da sind wir noch nicht weit genug.
Angriffe auf Wahlkampfteams, Neonazis stören CSD-Feiernde - Sind die „Baseballschläger-Jahre“ zurück?
Krell: Ich glaube, dass die gewaltorientierte extreme Rechte in Sachsen ja nie verschwunden war. Was wir jetzt sehen, ist, dass es auf jeden Fall eine neue Generation an aktiven, gewaltbereiten Neonazis gibt.
Nattke: Aber in den 90er Jahren gab es keine Partei, die von den Sicherheitsbehörden als rechtsextreme Partei klassifiziert wurde und gleichzeitig eine Machtoption bei Wahlen hatte. Das haben wir aber jetzt. Insofern finde ich in einigen Aspekten die heutige Situation viel bedrohlicher als in den 90er Jahren.
Wie kann in den Kommunalparlamenten mit den neuen radikalen Lokalpolitikern umgegangen werden?
Nattke: In den Parlamenten ist es wichtig, dass alle demokratisch Gesinnten sich absprechen, wie man mit Provokationen von zum Beispiel „Freie Sachsen“ umgeht. Klare Absprachen, dass nicht alle nur Widerrede abgeben: Wer tritt jetzt ans Mikrofon und macht die Gegenrede? Und alle anderen bleiben beim eigentlichen Thema, damit man trotzdem vorankommt.
Wichtig ist es auch, nicht allein zu sein mit seiner Arbeit für demokratische Werte. Über den eigenen Schatten springen und sich kommunal und regional zusammenschließen:
Wo ist die nächste Kirchgemeinde, die vielleicht in dieser gemeinsamen Sache für demokratische Werte mit dabei sein möchte? Wo ist der nächste Sportverein, der da ein Interesse daran hat, dass eben keine Rechtsextremen bei ihnen mitmachen?
Diese Bündnisse muss man schließen und schauen, wer ist mit im Boot, wer ist hier mit an meiner Seite?
Das ganze Gespräch können Sie auch hier nachhören.