Sa, 21.10.2023 , 09:05 Uhr

Stasi-Gefängnis als «Tor zur Freiheit» - Neue Gedenkstätte öffnet

Chemnitz - Für die einen war das Kaßberg-Gefängnis in Chemnitz erste Station auf einem langen Leidensweg im Nationalsozialismus. Für andere in der DDR das «Tor zur Freiheit» in den Westen. Eine neue Gedenkstätte erinnert an Schicksale und Lebenswege der hier Inhaftierten zweier Diktaturen.

 
Mit etwa 40 Leuten saßen Matthias und Christine Storck im Dezember 1980 in dem Bus, der sie über die innerdeutsche Grenze in die Freiheit bringen sollte. In Greifswald hatten sie sich in oppositionellen Kreisen engagiert und waren 1979 von einem Freund verraten worden. Das Urteil: zwei Jahre und acht Monate Haft. Als politische Häftlinge eröffnet sich schließlich die Möglichkeit, die DDR zu verlassen. «Solange der Bus noch im Osten war, war die Stimmung sehr verhalten», erinnert sich Matthias Storck heute. «Als wir dann in Herleshausen die Grenze überquert hatten, war der ganze Bus ein einziger Freudenschrei.»
 
Inzwischen lange in Ostwestfalen heimisch, gehört das Ehepaar zu den mehr als 33 000 DDR-Bürgern, die einst von der Bundesrepublik freigekauft wurden. Eine zentrale Rolle spielte dabei das Stasi-Gefängnis auf dem Chemnitzer Kaßberg. Aus der gesamten DDR wurden für den Freikauf vorgesehene Gefangene hierher gebracht, bevor sie nach einigen Wochen in den Bus gen Westen steigen durften. Die Haftanstalt galt ihnen daher als «Tor zur Freiheit».
 
Am Freitag sind die Storcks noch einmal an diesen Ort zurückgekehrt. Denn für rund 4,6 Millionen Euro ist hier ein neuer Lern- und Gedenkort entstanden, der am Nachmittag eröffnet werden sollte. Zwar hat es etliche Untersuchungsgefängnisse der DDR-Staatssicherheit gegeben. Mit seiner Rolle als Drehscheibe für den Häftlingsfreikauf habe das in Chemnitz aber ein Alleinstellungsmerkmal, erklärt Kurator Peter Wellach. Ziel für das Gedenkstättenkonzept sei nicht gewesen, den Hafttrakt wie eine Filmkulisse zu rekonstruieren, sondern «Fenster in die Vergangenheit» zu schaffen. Der Schwerpunkt liege dabei auf den Menschen, ihren Biografien und Schicksalen.
 
Ein Doppelstockbett, ein Mini-Tisch, Waschbecken, Toilette und ein Wandschrank: Der Blick in die rekonstruierte Freikauf-Zelle zeigt eine spartanische Einrichtung. Doch wer hier einsaß, dem ging es besser als anderen Stasi-Häftlingen. Von verfügbaren Büchern, über das Essen bis hin zu West-Zigaretten. Im Stasi-Jargon sei von einer «Peppelanstalt» die Rede gewesen, berichtet Wellach. «Die Frauen und Männer sollten nicht so schlecht aussehen, wenn sie im Westen ankommen.» Mit dieser speziellen Geschichte sei das Kaßberg-Gefängnis nicht nur ein ostdeutscher, sondern ein deutsch-deutscher Erinnerungsort, sagt der Vorsitzende des Trägervereins, Jürgen Renz.
 
Ab den 1960er Jahren kaufte die Bundesrepublik vielfach politische Häftlinge aus der DDR frei. Über die Jahre gab die Bundesrepublik dafür fast 3,5 Milliarden D-Mark aus - heute umgerechnet knapp 1,8 Milliarden Euro. Für die DDR eine lukrative Einnahmequelle, bei der die SED-Oberen zugleich unbequeme Bürger loswerden konnten. Im Westen war der Freikauf nicht unumstritten, galt den einen als «humanitäre Aktion», den anderen als «Menschenhandel».
 
Doch die neue Dauerausstellung spannt den Bogen weit darüber hinaus. Denn die Wurzeln der Haftanstalt reichen bis ins 19. Jahrhundert zurück. Damals war sie im Sinne eines humanistischen Strafvollzugs errichtet worden. Später sperrten dort die Nationalsozialisten neben Kriminellen politische Häftlinge und anderweitig Ausgegrenzte wie Zeugen Jehovas, Homosexuelle und Juden ein. Dazu gehörten etwa der Kommunist Walter Janka und der Jude Jankel Rotstein. Nach Kriegsende wurde das Gefängnis von den Sowjets genutzt, später vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR als Untersuchungsgefängnis.
 
Auch über diese Schicksale können sich Besucher beim Rundgang informieren und erhalten Einblicke in die Haftbedingungen. «Wer sich auf diesen Ort einlässt, kann begreifen, wie wertvoll die Freiheit ist und was wir verlieren, wenn sie nicht mehr da ist», betont Renz.
 
Sechs Jahre hat das Projekt gedauert, knapp zwei Jahre nahm der Umbau des einstigen Hafttraktes in Anspruch. Zeitzeugen äußern sich am Freitag zufrieden mit dem Ergebnis. «Die DDR war ein Unrechtsstaat und das muss immer wieder gesagt werden», sagt Christine Storck. Bei der Umsetzung der Ausstellung sei mit viel Einfühlungsvermögen vorgegangen worden. Zudem werde sehr gelungen der Übergang von der NS-Zeit über die sowjetische Besatzung bis in die DDR dargestellt, konstatiert die 64-Jährige. «Es zeigt sich, dass das gleiche System dahinter steckt, um Menschen zu erniedrigen.»
 
(dpa)